Rotgelbe Legenden - Eine Serie von Manfred Kraus

Teil 2 über Vladimir Martinec


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Es kam einer Sensation gleich. Politisch wie sportlich. Als die Tschechoslowakei in der Hochzeit des Kalten Krieges ein winziges legales Schlupfloch in die Undurchdringlichkeit des Eisernen Vorhanges schnitt. Um harte Devisen ins Land zu bekommen und gleichzeitig verdiente Eishockeygrößen im Herbst ihrer Laufbahn noch ein paar Früchte ihrer herausragenden Leistungen ernten zu lassen. Im Goldenen Westen. Indessen – es kamen nur wenige. Zunächst. Ende der Sechziger. Joschi Golonka etwa, den es an den Fuß der Zugspitze zog, und Jozef Capla, der in der Fuggerstadt Augsburg aufschlug. Auch der ESV Kaufbeuren angelte sich schon damals einen hochklassigen Verteidiger. Florian Strida aus Pardubitz. Für eine Saison. Anno 69.

Ein Jahrzehnt später aber sollte aus dem Tröpfeln ein ganzer Schwall werden. Prag gewährte die Freigabe fürs Ausland nun häufiger und die Zahl hochklassiger Tschechoslowaken in der Bundesliga erhöhte sich schlagartig. Für die noch voll im Saft stehenden Nationalspieler bedeutete die Fortsetzung ihrer Karriere im Westen eine Belohnung und Anerkennung, für die CSSR die Beschaffung begehrter Währungen, für das westdeutsche Eishockey, dem auch wegen der räumlichen Nähe bevorzugten Ziel der hochdekorierten Eishockeygrößen, eine ungeheure Aufwertung, für die Eishockeyfans hierzulande eine Augenweide. Woche für Woche.

Mit einem Schlag entwickelte sich die Bundesliga zum Schauplatz der Helden des Welteishockeys – ein Umstand, der durch die seinerzeitige Begrenzung der Ausländerzahl auf lediglich zwei Stellen und eine erst in den Kinderschuhen steckende Eindeutschungswelle aus Kanada zusätzliche Bedeutung erlangte. Legendäre Fangkünstler wie Vladimir Dzurilla und Jiri Holecek tauchten plötzlich in der Bundesliga auf, berühmte Abwehrspieler wie Oldrich Machac und Frantisek Pospisil, unwiderstehliche Angreifer wie Jiri Kochta und Jiri Holik. Geprägt von den höchsten Ansprüchen des technisch ausgerichteten osteuropäischen Eishockeys, gewachsen in Hunderten von Länderspielen, gestählt in den hochbrisanten Duellen mit den Sowjets, in denen die Kinder des Prager Frühlings dem übermächtigen roten Bruder in Moskau ihren Widerspruch gegen die Okkupation und die gewaltsame Niederschlagung der Reformen kundzutun vermochten.

Die Latte lag allerdings hoch, denn belohnt wurde nur, wer sich besondere Verdienste um den Eishockeysport erworben, zu außergewöhnlichen Erfolgen, vorzugsweise dem Weltmeistertitel, beigetragen und die Altersgrenze von einunddreißig Jahren erreicht hatte. Und mit den Spielern kamen auch die Männer hinter der Bande, die mehr Eishockeylehrer waren als Trainer und die hochstehende tschechoslowakische Schule mitbrachten – Dr. Jano Starsi, Karel Gut, Pavel Wohl.

Da wollte auch der ESV Kaufbeuren nicht zurückstehen und der Allgäuer Traditionsverein nutzte nicht nur die Gunst der Stunde, sondern auch die ausgezeichneten Kontakte seines langjährigen Vorstands Sepp Pflügl, dem es gelang, wahre Goldstücke aus dem ostböhmischen Pardubitz an die Wertach zu lotsen. Hatte ein Jahr zuvor der westliche Boykott der Olympischen Sommerspiele von Moskau die verborgenen Verhandlungen noch ins Stocken gebracht, glückte im Sommer 1981 der ganz große Coup. Die aufsehenerregende Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, sollte doch das weltberühmte Sturmduo Vladimir Martinec und Bohuslav Stastny zum ESVK wechseln. Ein Glücksfall, der durch die Verpflichtung des väterlichen Taktikfuchses Florian Strida seine Vollendung erfuhr und auch nicht durch Bohuslav Stastnys Knöchelbruch im Sommertraining geschmälert werden konnte, ließ Sepp Pflügl doch sogleich seine Beziehungen zur Agentur Prago Sport noch einmal spielen, so dass bis in den Advent hinein Abwehrass Jan Suchy, einstiger Dauergast im All-Star-Team der Welttitelkämpfe, nachverpflichtet werden konnte.

Was für ein Pfund! Vladimir Martinec. 291 Länderspiele. Bohuslav Stastny. 195. Sein Vertreter Jan Suchy. 160.

Eine einzigartige, eine unwiederbringliche, eine heute nicht mehr denkbare Zeit. Zwar stehen die Grenzen seit dem Fall des Eisernen Vorhanges weit offen, doch für die besten tschechischen und slowakischen Spieler ist Deutschland schon lange nicht mehr erste Wahl. Ihre Spielkunst ist in der russischen KHL ebenso gefragt wie in der berühmten nordamerikanischen NHL, wohin man früher nur durch die unwägbaren Risiken der Flucht zu gelangen vermochte. Der geniale Vaclav Nedomansky und der kaum minder bekannte Richard Farda, später kurzzeitig Coach in Kaufbeuren, mögen in diesem Zusammenhang als anschauliche Beispiele dienen.

Vlado Martinec und Bogu Stastny verstanden sich blind und sie begründeten beim ESVK schlichtweg eine Ära. Ihre einzigartige Interpretation des Eishockeysports fügte sich zu einem filigranen Gesamtkunstwerk. Jeder Laufweg ergab Sinn, jedes Zuspiel gehorchte einer höheren Logik. Eine in ihrer ansatzlosen Winzigkeit kaum wahrnehmbare Körpertäuschung, ein unmerkliches Streicheln des Pucks ließen ganze Horden von Gegenspielern ins Leere laufen und schufen in einem Atemzug neue Spielsituationen – und dass sie, die weltweit zu den Größten zählenden Künstler aus Böhmen, dabei immer bescheiden blieben und selbst härtesten Angriffen und wüsten Provokationen widerstanden, spricht Bände. Bedauerlich nur, dass ihnen nicht von allen Spielleitern der ihnen zustehende Schutz gewährt wurde.

Die beiden Traumstürmer aus Pardubitz, zu denen sich das Kaufbeurer Eigengewächs Horst Heckelsmüller als ideale Ergänzung in den ersten Sturm gesellte, waren wie Zwillinge. Gerade deshalb schmälert es die hervorragenden Leistungen des eher defensiv ausgerichteten Bohuslav Stastny keineswegs, wenn man Vladimir Martinec als nahezu perfekten Eishockeyspieler bezeichnet und auf die imaginäre Frage nach dem Größten, der jemals das Trikot des ESVK getragen hat, ohne Zögern den klangvollen Namen des dreifachen Weltmeisters und mehrfachen All Stars nennen würde. Noch heute gilt er als einer der intelligentesten und technisch beschlagensten Spieler aller Zeiten. Torjäger und Ideengeber. Fair. Kreativ. Pfeilschnell. Brandgefährlich. Höchstes läuferisches Niveau. Großartiges taktisches Gespür. Geniale Stocktechnik. Denker und Lenker. Sich trotzdem für keinen Weg zu schade. Spiritus Rector auf dem Eis.

Vladimir Martinec und Bohuslav Stastny waren im Kollektiv verhaftete Teamspieler von höchster individueller Güte. Ausgezeichnet mit Respekt vor dem Gegner und Achtung vor dem Spiel. Große Sportsmänner. Sie führten eine außergewöhnlich begabte und hart arbeitende Kaufbeurer Mannschaft um Didi Hegen, Mandi Schuster und Dino Medicus auf ein ungekanntes Niveau. Zweimal zogen sie mit dem ESVK ins Halbfinale um die deutsche Meisterschaft ein – die Mannschaft war eine Einheit, der Berliner Platz eine Festung. Und selbstverständlich wurden die Herzblutsportler von der Elbe anlässlich des Millenniums ins Kaufbeurer All-Star-Team des zwanzigsten Jahrhunderts berufen. Weltstars ohne Allüren, die ob ihrer Bescheidenheit und Bodenständigkeit nirgendwo besser hingepasst hätten als ins beschauliche Allgäu.

Nach drei Jahren erlosch für gewöhnlich die Freigabe für den Westen. Prago Sport aber gewährte den beiden Ausnahmekönnern und ihrem begnadeten Trainer noch eine weitere Saison in der eishockeyverrückten Stadt an der Wertach, die ihnen zur zweiten Heimat geworden war. Als sich der Eiserne Vorhang 1985 wieder hinter ihnen zuzog, verließen sie den Eissportverein Kaufbeuren als Freunde. Sie haben den Berliner Platz zur Eishockeybühne erhoben. Zurück bleibt ein Hauch von Unendlichkeit.

 

Vladimir Martinec

Geboren: 22. Dezember 1949

Körpergröße: 174 cm

Rückennummer: 13

Position: Rechtsaußen

Für die CSSR: 291 Länderspiele, 155 Tore

Dreimal Weltmeister: 1972, 1976, 1977

All-Star-Team der WM: 1974, 1975, 1976, 1977

WM 1976 in Kattowitz: Topscorer und bester Stürmer

Internationale Titelkämpfe: Zwölfmal WM (elf Medaillen), dreimal Olympia (zwei Medaillen)

IIHF Hall of Fame: Mitglied seit 2001

Vier Jahre ESVK: 1981 bis 1985 (zweimal Halbfinale 1984 und 1985)

Scorerwerte in der Bundesliga: 183 Spiele, 136 Tore, 133 Beihilfen

Co-Trainer und Trainer beim ESVK: 1990 bis Klo 1992

Text: Manfred Kraus

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