Rotgelbe Legenden - Eine Serie von Manfred Kraus

Teil 3 über Dieter „Didi“ Hegen


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Er kam, sah und siegte. Didi Hegen. Kaufbeurens Jahrhunderttalent. Mit siebzehn mischte er die zweithöchste Spielklasse auf. Mit achtzehn krönte er sich zum Torschützenkönig der Bundesliga. Mit einundzwanzig führte er seinen ESVK erstmals ins Halbfinale um die deutsche Meisterschaft. Mit vierundzwanzig zog es ihn hinaus in die Welt, wo er immer und überall herausragte, Titel zuhauf sammelte, sich mit den Größten auf Augenhöhe maß. Und als er mit achtunddreißig heimkehrte, war er längst zur Eishockeylegende geworden.

Fünf Olympische Winterspiele, dreizehn Weltmeisterschaften, 290 Länderspiele und sieben deutsche Meistertitel, zu denen der unvergleichliche Torriecher des Vollblutstürmers aus dem Allgäu stets einen maßgeblichen Beitrag geleistet hatte, kamen schließlich zusammen. Da konnte die ehrenvolle Wahl zum besten deutschen Linksaußen aller Zeiten nicht ausbleiben. Und die Berufung sowohl ins deutsche als auch ins Kaufbeurer All-Star-Team des zwanzigsten Jahrhunderts gab es obendrein. Als Würdigung einer traumhaften Laufbahn, die auf Kaufbeurer Eis ihren Anfang genommen hatte und schließlich im Jahr 2010 mit seiner Aufnahme in den erlauchten Kreis der IIHF Hall-of-Fame ihre Krönung erfuhr.

Didi Hegen ging ab wie eine Rakete. Das weckte schon früh die Begehrlichkeiten der finanzkräftigen Westklubs. Trotzdem glänzte der famose Torjäger sieben volle Jahre in der ersten Mannschaft des Vereins, bei dem er groß geworden war. Als er sich anno 86 dann doch gen Rhein auf den Weg machte, erfasste eine tiefe Wehmut den Berliner Platz. Wer aber sollte ihm böse dafür sein? Bei einem Spieler seiner vorzüglichen Güte erscheint ein derartig langer Verbleib beim Heimatverein heutzutage ohnehin geradezu undenkbar.

Kaufbeuren ist zu allen Zeiten stolz auf seinen größten Eishockeysohn geblieben und die fachkundigen Anhänger des ESVK haben ihr feines Gespür für Didis herausragende Rolle bei der rotgelben Metamorphose von der Fahrstuhlmannschaft zum ernstzunehmenden Meisterschaftsmitbewerber auch nach seinem Weggang nicht eingebüßt. Drüben am altehrwürdigen Berliner Platz hing das Trikot des Ausnahmekönners, der beim ESVK ausschließlich die 11 trug, unterm Hallendach, und der Deutsche Eishockey Bund vergibt seine Rückennummer 23 überhaupt nicht mehr.

Aber der Reihe nach.

Schon im Nachwuchs war Didi Hegens aufsehenerregendes Talent auch dem unbefangenen Betrachter ins Auge gestochen und als der gebürtige Kaufbeurer 1979 in die Erste aufrückte, avancierte er ohne den Hauch einer Anlaufzeit zum Leistungsträger. Didi war nicht der Rohdiamant, der erst geschliffen werden musste, nein, er schlug auf Anhieb mit voller Wucht ein. Eine tragende Säule aus Berufung. Mit seiner ausgefeilten Technik, seinen unnachahmlichen läuferischen Qualitäten und seiner unbekümmerten Frechheit wirbelte das Sturmass die Zweite Bundesliga durcheinander und mit seinem mächtigen Schlagschuss lehrte er auch gestandenen Torhütern das Fürchten. Sage und schreibe 124 Scorerpunkte sammelte der 17-jährige Eishockeyästhet in Deutschlands zweithöchster Spielklasse und innerhalb einer aufstrebenden Kaufbeurer Mannschaft bildete er zusammen mit dem schnauzbärtigen kanadischen Ideengeber Adam Brown und dem einhundertfachen Torschützen Kenneth Brown ein teuflisches Trio. Schier unglaubliche 8,02 Treffern pro Spiel katapultierten die Torfabrik von der Wertach eingangs der Achtziger, die für den ESVK golden zu werden versprachen, in die Bundesliga – und auch dort setzte der unbezähmbare Himmelsstürmer sogleich Maßstäbe. Er traf vierundfünfzigmal. Wurde Torschützenkönig der deutschen Eliteklasse. Mit achtzehn. Als Rookie. Noch vor ausgekochten Eishockeygrößen vom Schlage eines Jiri Kochta, eines Erich Kühnhackl, eines Dick Decloe. Bad Nauheim schenkte er gleich fünf Stück an einem Abend ein.

Ein in seiner Aussagekraft beeindruckender Vergleich ist das. Indessen lässt sich sofort ein wohl noch bemerkenswerterer darauf setzen, um das gewaltige Potential des Dieter Hegen zu veranschaulichen. Werfen wir dazu einen Blick auf die A-Weltmeisterschaften der Junioren, wo sich der brandgefährliche Allgäuer beim Heimturnier zum Jahreswechsel 1979/80 die Krone als Topscorer und Torschützenkönig aufsetzte und Riesen wie Patrik Sundström und Andrej Chomutow hinter sich ließ, nachdem er sich bereits ein Jahr zuvor in Helsiniki in das Toptrio eingereiht hatte. In Gesellschaft von Wladimir Krutow und Jari Kurri. Und noch vor Hakan Loob, Igor Larionow und Dusan Pasek.

Didi Hegen war unfassbar gut. Einen wie ihn gibt es hierzulande nur alle heiligen Zeiten. Ein Instinktspieler, der auf den Schlittschuhen stand wie ein junger Herrgott, der das Spiel lesen konnte, der den unmöglich erscheinenden Pass in die Schnittstelle spielte, der schon in jungen Jahren den Unterschied ausmachte. „Didi war ein Ausnahmespieler“, erzählte mir Manfred Schuster, selbst eine Kaufbeurer Vereinsikone, „er hatte einfach ein Gespür für die Situation. Sein Torinstinkt war überragend und die gegnerischen Verteidiger hatten gewaltige Probleme, ihn in den Griff zu bekommen. Auch international. Vor Didi hatte sogar der große Wladislaw Tretjak Respekt. Eigentlich schade, dass er nicht den Sprung in die NHL gewagt hat. Aus meiner Sicht hätte er auch dort eine bedeutende Rollen spielen können.“

Didi Hegen, das bedeutete Unbekümmertheit und Frechheit – und gerade vor dem Tor reizte der fintenreiche Goalgetter seinen Einfallsreichtum im Abschluss eiskalt aus. Treffer am Fließband waren die Folge seiner Unberechenbarkeit. Und über all das hinaus besaß er auch noch diesen Schuss Genialität, diese dreiste Leichtigkeit des Könners, die ihn selbst in nervenaufreibenden Szenen mit beeindruckender Lockerheit zu Werke gehen ließen.

Ein Kostprobe gefällig? Dann begleiten Sie mich zum emotionsgeladenen Allgäuer Duell gegen den großen Lokalrivalen und sechzehnfachen deutschen Meister EV Füssen. Wir schreiben den 11. September 1981. Ausverkauftes Haus. Die Bude ist voll bis unter die Decke. Derbystimmung. Zwei bärenstarke Mannschaften prallen aufeinander. Füssen wartet mit Uli Egen auf, mit Kaj Nilsson und Schorsch Holzmann. Will die sich anbahnende Wachablösung im Allgäu mit aller Macht verhindern. Der ESVK hält mit Vladimir Martinec dagegen, mit Jan Suchy, Mandi Schuster, Dino Medicus. Und selbstverständlich mit Didi Hegen. Die Partie wogt auf und ab. Natürlich tut sie das. Sie steht auf des Messers Schneide. Obwohl der ESVK schon mit 4:0 und 6:2 in Führung gelegen hat. Dann aber den Faden verlor. Die Führung abgab. Und die Gäste das Blatt wendeten. 6:7. Eine kritische Phase. Da durchbricht Didi unwiderstehlich die schwarzgelbe Abwehrkette. Unaufhaltsam strebte er dem von Beppo Schlickenrieder gehüteten Gehäuse zu. Wird von den Beinen geholt. Zu Fall gebracht. Jäh ist die Torchance vereitelt. Schiedsrichter Jupp Kompalla aber überkreuzt die Hände über dem Kopf. Penalty. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Zeit drängt, der Spielverlauf duldet keinen Fehlschuss, das Derby steht Spitz auf Knopf. Wenn Didi verschießt, droht der Erzrivale noch mehr Oberwasser zu gewinnen, droht das Derby an Füssen zu gehen, droht eines der bedeutsamsten Spiele der Saison in eine Niederlage zu münden. Kaufbeuren gegen Füssen, das bedeutet Rivalität, Hochspannung, Atemlosigkeit. Zumal bei dieser Torfolge. Didi muss treffen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Dramatik hängt in der Luft. Die Nerven der mehr als Sechstausend sind zum Zerreißen gespannt, als der Neunzehnjährige mutterseelenallein im Mittelkreis steht und wartet. Da pfeift der Referee aus Krefeld und Kaufbeurens blutjunger Elfer läuft an. Auf den brechend vollen Rängen wird es mit einem Mal mucksmäuschenstill. Die Halle hält für einen Augenblick den Atem an, während Didi in Windeseile die Mittellinie überquert. Der Puck klebt an seinem Schläger. Beppo Schlickenrieder kommt ihm entgegen. In gebückter Haltung. Zieht sich aber sogleich wieder in sein Schneckenhaus zurück. Er saugt die Bewegungen des Schützen auf. Da täuscht Didi einen Schuss an. Zieht aber nicht ab. Dreht sich urplötzlich um einhundertachtzig Grad. Fährt rückwärts auf den verdutzten Füssener Keeper zu. Hat nur noch wenige Schritte bis zum Tor. Der Winkel wird immer kleiner. Da wendet sich der Kaufbeurer unversehens mit einem einzigen Ruck wieder um. Zieht aus dieser verblüffenden Bewegung heraus eiskalt ab. Die Scheiben rauscht an Beppo Schlickenrieder vorbei. Zappelt unhaltbar im Netz. Ein Aufschrei. Die Halle steht kopf. Der Ausgleich. Ein Geniestreich. 7:7.

Didi Hegen ging seinen Weg. Und er wurde noch stärker. Reifer. Erfahrener. Zu seinem Talent gesellten sich die Vorzüge der Routine, nie aber verlor er seine Unbekümmertheit, die ihn stets ausgezeichnet hatte und sein Trumpf blieb. Zweimal führte er seinen ESVK ins Halbfinale um die deutsche Meisterschaft, ausnahmslos in die Playoffs. Die größten Erfolge der Vereinsgeschichte sind eng mit seinem Namen verbunden. Er ging immer voran. Übernahm Verantwortung. War der Go-to-Guy. Einerlei mit wem er in einer Reihe stand. Didi konnte mit allen. Mit Bill Lochead, mit Vladimir Martinec, mit Bohuslav Stastny, mit Robert Hammerle, mit Beppo Riefler. Und der Kaufbeurer Stadtmauer legte er millimetergenau ihre berüchtigten Direktabnahmen von der blauen Linie auf, während sein Bruder Gerhard hinten den Laden dichthielt und die Pucks mit seiner Fanghand wie reife Früchte pflückte.

Nach seiner Kaufbeurer Zeit begegnete Didi Hegen am Rhein einem kongenialen Partner. Gerd Truntschka. Sie fanden sich und blieben zusammen, um reihenweise deutsche Meisterschaften einzufahren. In Köln, in Düsseldorf, in München. Gemeinsam feierten sie nationale und internationale Erfolge. Das aber ist eine andere Geschichte.

Didi Hegen hat eine wahre Bilderbuchkarriere hingelegt. Wäre tatsächlich noch mehr drin gewesen? Vielleicht. Aber wer weiß das schon? Wir werden es niemals erfahren. Das Talent dafür besessen hätte er zweifellos. Für Nordamerika, für die National Hockey League. Vielleicht hätte er ihn wagen sollen, den Sprung über den Großen Teich. Mit all der dafür unabdingbaren Verbissenheit, der allerletzten Konsequenz. Vielleicht aber wäre Nordamerika auch gar nicht seine Welt gewesen. Vielleicht hätte die NHL nicht zu ihm gepasst. Obwohl oder vielleicht gerade weil ihn die Eishockeymuse zweimal geküsst hatte. Vielleicht.

Kaufbeuren hat seinen Didi Hegen niemals aus den Augen verloren und auch Didi Hegen hat seine Heimatstadt nicht vergessen. Nicht zuletzt bei der existenzbedrohenden Stadionfrage zeigte er rotgelbe Flagge. Anno fünfzehn. Und die Heimspiele des ESVK besuchte er in jenen Tagen sowieso. Wenn er dann an seiner alten Wirkungsstätte ganz droben unter dem Hallendach auf einer jener wackligen Behelfsbänke aus Holz saß, die seinerzeit eingebaut worden waren, als der gerammelt volle Berliner Platz ein ums andere Mal aus allen Nähten zu platzen drohte, hatte der Kaufbeurer Jahrhundertspieler immer Zeit für ein Schwätzchen, für ein Augenzwinkern, für einen freundlichen Blick – und einen Moment lang blitzte dann aus seinem Gesicht noch immer das verschmitzte Lächeln des Allgäuer Burschen, der einst von Kaufbeuren aus die Eishockeywelt erobert hatte.

 

Dieter Hegen

Geboren: 29. April 1962

Körpergröße: 184 cm

Rückennummer: Beim ESVK stets #11, im Nationalteam und bei anderen Vereinen #23 (wird vom DEB nicht mehr vergeben)

Position: Linksaußen

Für Deutschland: 290 Länderspiele, 111 Tore

Olympische Spiele: Sarajewo (1984), Calgary (1988), Albertville (1992), Lillehammer (1994), Nagano (1998)

Weitere internationale Turniere: 13 Weltmeisterschaften, mehrmals Iswestija Cup und Canada Cup

WM der Junioren: Torschützenkönig und Topscorer beim A-Turnier 1980/81

Hall of Fame des Weltverbands IIHF: Mitglied seit 2010

NHL Entry Draft: Montreal Canadiens 1981, 3. Runde, 46. Stelle

20 Jahre Bundesliga und DEL (1980 bis 2000): 892 Spiele, 643 Tore, 596 Assists für Kaufbeuren, Köln, Düsseldorf, München und Rosenheim (gemäß eigener Berechnung des Autors)

Auszeichnungen in Bundesliga und DEL: Siebenmal Meister, dreimal Torschützenkönig, Spieler des Jahres 1981 (Eishockey Magazin) und 1992 (Sportkurier), Rookie des Jahres 1981, siebenmal All-Star-Team

2. Bundesliga für den ESVK: 1 Saison, 42 Spiele, 60 Tore, 64 Assists (als 17-Jähriger 1979/80)

Bundesliga für den ESVK: 6 Saisonen, 261 Spiele, 262 Tore, 180 Assists (1980 bis 1986, im Alter von 18 Jahren Torschützenkönig 1980/81 mit 54 Treffern in 43 Spielen)

Oberliga für den ESVK: 2 Saisonen, 73 Spiele, 38 Tore, 39 Assists (2000 bis 2002)

Mitglied im Kaufbeurer All-Star-Team des 20. Jhs.: Erich Weishaupt – Manfred Schuster, Dieter Medicus – Vladimir Martinec, Dieter Hegen, Bohuslav Stastny – Trainer: Florian Strida.

Mitglied im deutschen All-Star-Team des 20. Jhs.: Karl Friesen – Uwe Krupp, Udo Kießling – Alois Schloder, Erich Kühnhackl, Dieter Hegen

Weitere Auszeichnung: Bester deutscher Linksaußen des 20. Jahrhunderts

Trainer und Sportlicher Leiter: Mehrere Stationen, vor allem Duisburg (beim ESVK 2013 Trainer, 2014 Sportlicher Leiter)

 

Text: Manfred Kraus, Apfeltrach

Text: Manfred Kraus

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