Rotgelbe Legenden - Eine Serie von Manfred Kraus

Teil 4 über Paul Geddes


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Der Schlag in die Magengrube kam aus heiterem Himmel und er saß. Ambitioniert in die Saison gegangen, hatte der ESV Kaufbeuren alle Saisonziele verpasst. Rote Laterne in der Bundesliga. Gescheitert im Zehnerfeld der Relegation. Hauchdünn zwar, aber was half das schon. Abgekämpft. Abgestürzt. Abgestiegen. Durch ein 2:3 gegen den Nordzweitligisten Krefeld am letzten Spieltag. Obwohl sie gefightet hatten wie die Berserker, um doch noch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, das Unfassbare abzuwenden nach einer Saison, die gründlich in die Hose gegangen war. Noch heute steht das Bild der mit hängenden Köpfen auf dem Eis knienden Abwehrstrategen Dieter Medicus und Manfred Schuster wie ein Symbol vor dem geistigen Auge. Sie hatten gerackert, sich in Schüsse geworfen, das Eis fast nicht mehr verlassen – und das Undenkbare doch nicht abzuwenden vermocht.

Wir waren wieder unten. Im Frühling 89, der uns eiskalt erwischt hatte. Ein Alptraum. Von Wolke sieben in den Abgrund gestürzt. Im Stadion herrschte Stille, einfach nur Stille. Die Stimmung glich einer Trauerveranstaltung. Tränen flossen. Und es war auch zum Heulen, weil sich nicht fassen ließ, was unfassbar war. Abgestiegen. Wir waren wirklich abgestiegen. Ausgangs der goldenen Achtziger, deren Erfolgsgeschichte man mit Nachdruck weiterschreiben hatte wollen. Am Boden nach einem Jahrzehnt der rauschenden Feste. Das Hochgefühl lag in Scherben. Finstere Wolken zogen auf über dem Berliner Platz. Eine Zäsur. Zumal mit dem Abstieg auch das Ende einer großen Ära in der Vereinsführung einherging, zog sich doch der langjährige Vorstand Sepp Pflügl zurück. Er übergab das Ruder an Ulf Jäkel.

Da hieß es durchzuschnaufen. Ganz tief. Sich zu sammeln. Zu schütteln. Um schließlich doch wieder anzupacken. Mit bewährten Recken, die den Karren aus dem Dreck ziehen wollten, und mit neuen Gesichtern. Auch auf den beiden Ausländerpositionen, deren Besetzung die begonnene Neuorientierung fortführte. Der robuste Brecher Kraig Nienhuis verließ den ESVK gen Mannheim und mit Filigrantechniker Karel Holy ging auch der letzte Protagonist des überragenden tschechischen Jahrzehnts von Bord. Noch so ein Einschnitt.

Es kam: Emanuel Viveiros. Von den Kalamazoo Wings. Zur Stärkung der Defensive. Manny aber verletzte sich schon nach wenigen Partien langfristig und schwer, so dass nach einem Intermezzo des hochgehandelten Rick Wilson schließlich der schussgewaltige kanadische Olympiateilnehmer Serge Roy zum ESVK stieß. Wenn er zu seinem gefürchteten Schlagschuss ausholte, lief das Tor Gefahr, aus der Halle zu fliegen.

Und vorne? Eine Überraschung. Nein, kein Nobody, das wäre übertrieben. Ein beinahe unbeschriebenes Blatt aber durchaus. Sein Name: Paul Geddes. Fünfundzwanzig. Ein Kanadier, der zwei Jahre zuvor seine Prüfungen an der Universität von Calgary abgelegt und sich dann zum Sprung über den Großen Teich entschlossen hatte. Um genau zu sein: ins Emmental. Zum SC Langnau. Schweizer Meister 1976. Nun aber gefangen im Fahrstuhl. Aufsteiger in die Nationalliga A. Kellerkind. Absteiger.

„Während meiner letzten Eishockeysaison an der Universität“, erzählte mir Paul Geddes vor nicht allzu langer Zeit, „hatte ich das Glück, ins Team Canada für den Spengler Cup berufen zu werden. Das Turnier war ein verblüffendes Erlebnis und diese Erfahrung veranlasste mich, als Profi in Europa spielen zu wollen. In Davos hatte ich Merlin Malinowski getroffen, der in Langnau spielte. Sie suchten dort einen jungen und günstigen Importspieler. Ich war begeistert und habe die Gelegenheit beim Schopf gepackt.“

Team Canada und Spengler Cup. SC Langnau und Schweizer Nationalliga. Dazu gute Scorerwerte. Das waren durchaus Referenzen. Und trotzdem erstaunte die unerwartete Verpflichtung manchen. Schließlich gab es nur eine Devise am Berliner Platz. Ein Ziel. Klar definiert. Eindeutig umrissen. Den sofortigen Wiederaufstieg in die Bundesliga.

„Kaufbeuren wird für immer ein ganz besonderer Ort für mich sein. Ich besaß keine Vorstellung, wie es sein würde, in Deutschland zu leben und zu spielen, und war sehr nervös, wurde aber großartig aufgenommen. Noch gut erinnere ich mich, wie ich am ersten Tag von Trainer Florian Strida und Kapitän Manfred Schuster in der Umkleidekabine begrüßt wurde. Ich fühlte mich vom allerersten Augenblick an als Teil der Mannschaft“, entsinnt sich der Vollblutstürmer aus der westkanadischen Provinz Alberta, der auf Anhieb abging wie eine Rakete und sich im Handumdrehen als pfeilschnelle Speerspitze, als wieselflinker Antreiber, als brandgefährlicher Torjäger erwies. Aber nicht nur das. Paul Geddes war auch ein Kämpfer vor dem Herrn, ein Vorbild, ein Sympathieträger. Mit seiner unbändigen Leidenschaft eroberte er das Allgäu im Sturm. Trotz seiner geringen Körpergröße verfügte er über ein bemerkenswertes Durchsetzungsvermögen, das seinen sichtbaren Niederschlag in 59 Saisontoren und 37 Assists fand. Wenn Paul im Stakkato seiner stampfenden Schritte unwiderstehlich das Kaufbeurer Eis beackerte, hüpfte das abstiegsgeschundene rotgelbe Herz im Leibe. Seine Hingabe traf den Nerv der Zeit. Er war geschaffen zum Publikumsliebling.

Eine Zuneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte: „Schon beim ersten Heimspiel wurde mir klar, dass die Kaufbeurer Fans sehr leidenschaftlich sein würden. Sie liebten ihre Mannschaft und es hat mich stets sehr beeindruckt, wie sie das ganze Spiel über sangen und uns anfeuerten. Mir gefiel diese Leidenschaft überaus. Ich fühlte mich vom Kaufbeurer Publikum immer getragen und geschätzt. Ihre tolle Unterstützung werde ich niemals vergessen.“

Indessen – Pauls erstes Kaufbeurer Jahr endete im Desaster. Ach was, es war noch schlimmer. Ein Keulenschlag allererster Güte, ein Drama, ein Schock. Jenes aufwühlende 4:5 des unvergessenen 8. April 1990, das uns den Wiederaufstieg kostete und sowohl in die Kaufbeurer als auch in die Freiburger Vereinsgeschichte eingegangen ist. Schon 4:1 war der ESVK gegen den unmittelbaren Konkurrenten aus dem Breisgau in Führung gelegen. „Nie mehr, nie mehr, nie mehr zweite Liga“, sang die brechend volle Halle im Hochgefühl der Erleichterung. Der Hexenkessel kochte über. Ein Funke noch und der Berliner Platz wäre in die Luft geflogen. Grenzenlos war die Euphorie, nachdem der junge Rolf Hammer bei seinem dritten Treffer den Puck vorbei am berühmten Jiri Crha hoch ins Kreuzeck geschlenzt hatte. An jenem Sonntag im April, dessen Ende bitter werden sollte, schmerzhaft, beinhart.

Gewiss, die Freiburger Comebackqualität rang Respekt ab. Daran gab es nichts zu deuteln. Im Augenblick, als die Sirene ertönte, aber war da nur noch Niedergeschlagenheit, nur noch Leere. Die Eisfläche glich einem schwarzen Loch. Für alle, die rotgelb fühlten. Wieder lagen wir am Boden. Waren wieder gescheitert. Wieder in letzten Minute. Wieder denkbar knapp. Wieder daheim. Wieder vor vollem Haus. Wieder in einem hochdramatischen Saisonfinale.

Ein denkwürdiges Spiel, dem ein denkwürdiger Generationswechsel von gleichsam vereinshistorischer Dimenison folgte. Hochverdiente Kaufbeurer Eishockeygrößen räumten ihren Platz und wäre das alles noch nicht genug gewesen, ereilte den Eissportverein Kaufbeuren alsbald auch noch die traurige Nachricht vom Unfalltod des erst dreiundsechzigjährigen Sepp Pflügl, der die Geschicke des Vereins in bemerkenswerter Weise gelenkt hatte.

Der schwarze Freiburgtag beutelte den ESVK schwer und nur allmählich wich das lähmende Entsetzen einer unwesentlich erträglicheren Katerstimmung. Das Krefelderlebnis des Vorjahres hatte sich wiederholt. Nein, nicht nur wiederholt. Es hatte sich noch gesteigert. Abgestiegen aus der Bundesliga 1989 im allerletzten von vierundfünfzig Spielen, den sofortigen Wiederaufstieg verpasst 1990 in der allerletzten von vierundfünfzig Partien. Wie ein böser Fluch lasteten die Geschehnisse auf dem ESVK, der aber nicht der ESVK wäre, wenn er das nicht ausgehalten hätte, wenn er nicht wieder aufgestanden, wenn er nicht wiedergekommen wäre. Hinfallen war die eine Sache, aufstehen die andere.

Und mittendrin Paul Geddes, der das Heft in seiner unnachahmlichen Art in die Hand nahm, seine Mitspieler mitriss, Tore am Fließband erzielte. 53 Treffer und 50 Vorlagen legen ein beredtes Zeugnis von seiner Klasse ab. Paul Geddes war ein Goldstück. Für das Spiel, für die Moral, für die Mannschaft, in der die Mischung zu stimmen schien. Christian Lukes, Rolf Hammer, Heiner Römer, Hans-Jörg Mayer, Rochus Schneider und Rudi Sternkopf ergänzten sich unter der ebenso fachkundigen wie menschlichen Anleitung der ins Allgäu zurückgekehrten Legenden Florian Strida und Vladimir Martinec ausgezeichnet mit Robert Paclik, Jimbo Hoffmann, Ernest Bokros und Paul Geddes, der traf, wie er wollte. Obwohl es mitunter noch etwas zäh lief in der Zweiten Bundesliga Süd, ehe in der Knochenmühle der achtzehn Endrundenspiele der Knoten endgültig platzte und die Allgäuer mit Bravour und 28:8 Punkten auf den ersten Aufstiegsplatz stürmten. Nicht zuletzt dank des langerwarteten Eintreffens der im mährischen Olmütz ihrer Papiere harrenden Deutsch-Tschechen Frantisek Frosch und Daniel Kunce, mit denen das Fehlen der schmerzlich vermissten Kaufbeurer Stadtmauer schließlich doch noch zumindest ein Stück weit aufgefangen werden konnte.

Tonnenweise polterten von den rotgelben Herzen die Steine, als der achte Bundesligaaufstieg der Vereinsgeschichte und mit ihm die heißersehnte Rückkehr ins Oberhaus in trockenen Tüchern war. „Der Aufstieg mit dem ESVK in die Bundesliga stellt einen der stolzesten Augenblicke in meiner Spielerlaufbahn dar. Mich machte der Erfolg sehr glücklich“, kommt der unersetzbare Schlüsselspieler Paul Geddes noch heute ins Schwärmen, wenn er an den Moment denkt, als die Scharte ausgewetzt, der böse Geist vertrieben, der Fluch gebrochen, die Sehnsucht gestillt, der Traum in Erfüllung gegangen war.

Diesmal hatten wir uns die Butter nicht mehr vom Brot nehmen lassen. Wir hatten es geschafft, wir waren wieder oben, wir waren zurück.

Und dennoch sollte alsbald ein Wermutstropfen in den Freudenbecher der Kaufbeurer Fans fallen, plante doch ihr ESVK für die Bundesliga ohne seinen Publikumsliebling. Von den Toronto Maple Leafs holte man Dan Daoust aus der National Hockey League an den Berliner Platz. Der hatte 522 Spiele in der berühmten NHL auf dem Buckel. Ein Fortschritt, wie man glaubte. Ein Trugschluss, wie sich herausstellte.

Paul Geddes war enttäuscht. Er erwies sich aber selbst im Augenblick des Abschieds, der auch die rotgelbe Anhängerschaft mit unübersehbarer Wehmut erfüllte, als vorbildlicher Sportsmann und Gentleman. Ehrensache, immer wieder einmal nach Peißenberg zu fahren, um Paul Geddes im Pfaffenwinkel beim Zweitligaaufsteiger spielen zu sehen, ehe es ihn weiterzog nach Nürnberg, Landshut und Kassel, wo er ebenfalls das wurde, was er war – ein Publikumsliebling.

Heute lebt der stolze Vater dreier Töchter in Calgary, Alberta. Er arbeitet in der Erdgas- und Ölindustrie. Im Sommer 2017 wurde er erstmals Großvater, als seine älteste Tochter, die ihre ersten zwei Lebensjahre in Kaufbeuren verbracht hatte, ein Kind gebar. Es sind just die beiden Jahre, die dem sympathischen Wirbelwind reichten, um mit seiner Leidenschaft tiefe Spuren zu hinterlassen und Kultstatus zu erlangen.

 

Paul Geddes

Geboren: 25. August 1964 in Prince George, British Columbia, Kanada

Körpergröße: 176 cm

Rückennummer: #11

Position: Außenstürmer

Stationen vor dem ESVK: Calgary Canucks (Juniorenliga), University of Calgary Dinos, SC Langnau (Schweiz)

Zweite Bundesliga für den ESVK: 2 Jahre, 106 Spiele, 112 Tore, 87 Assists

Erfolge mit dem ESVK: Aufstieg in die Bundesliga 1991

Stationen nach dem ESVK: TSV Peißenberg, EHC 80 Nürnberg / Nürnberg Ice Tigers, EV Landshut, Kassel Huskies

Text: Manfred Kraus, Apfeltrach
Grafik: Manuel Ort

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